Salman Ansari Menschen · Natur · Leben · Literatur · Musik

17Jun/10Off

Was heißt Frühförderung und naturwissenschaftliche Bildung im Kindergarten?

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Ist all dies Frühförderung?

Am darauffolgenden Tag arbeite ich in der gleichen Kita mit einer anderen Gruppe zusammen. In dieser Gruppe befinden sich auch Kinder mit schweren Behinderungen. Ein Kind wird über eine Sonde ernährt. Wir gehen nun der Frage nach, ob die Pflanzen das Wasser auch über die Blätter aufnehmen können. Nach vielen kleinen Untersuchungen formuliert ein Kind seine Schlussfolgerung so: „Die Blätter, die Haut von Menschen und Tieren, das Gefieder der Vögel, der Regenmantel trinken das Wasser nicht. Dagegen wird das Wasser getrunken von Hemd und Pullover, von Handtüchern, von Papier und der Erde.“

Wir beenden die Arbeit vorläufig, weil es nun Mittagessen gibt. Die Erzieherin teilt das Essen aus und muss sich um ein Kind kümmern, das die Nahrung nicht selbstständig zu sich nehmen kann. Sie behält gleichzeitig alle anderen Kinder im Blick und versorgt sie mit Nachschlag, wenn sie dies wünschen. Es herrscht wundersame Ruhe und Zufriedenheit. Die Kinder finden es selbstverständlich, dass sie in einer Gemeinschaft sind, die keine Ausgrenzung von Behinderten kennt. Sie finden es völlig in Ordnung, dass die hilfebedürftigen Kinder mehr Zuwendung benötigen.
Stellen Sie sich vor, ich bin in einer Kita in Potsdam. Ich arbeite mit einer Gruppe von dreijährigen Kindern zusammen. Wir überlegen uns, ob wir auch ohne Licht sehen können. Wir untersuchen gegenseitig unsere Augen und stellen erstaunt fest, dass die Augenfarbe nicht bei allen Kindern gleich ist, während die Iris immer rund und schwarz ist. Wir nehmen ein Blatt Papier und schneiden mit offenen Augen einen Kreis mit einer Schere aus. Dies wiederholen wir mit geschlossen Augen und vergleichen die beiden ausgeschnittenen Kreise miteinander.

Da die Kinder über all diese Entdeckungen sehr aufgeregt sind, beschließen wir, uns zu beruhigen und die Stille mit geschlossenen Augen zu hören. Für mehrere Minuten herrscht vollkommene Stille, kein Kind will diese Stille unterbrechen. Auf ein Zeichen von mir dürfen sie die Augen wieder öffnen und reden. Ich frage, ob sie die Stille gehört hätten. Alle Kinder bejahen dies und möchten die Stille noch einmal hören.
Stellen Sie sich vor, ich bin in Teltow in einem und beobachte die Arbeit einer Erzieherin. Mir fällt auf, dass die Erzieherin niemals ihre Stimme erhebt, auch nicht, wenn es einmal laut und unruhig wird. Sie spricht mit jedem Kind in einem beruhigenden, verbindlichen Ton, und es entgeht ihr nie, was ein Kind sagt, selbst wenn sie gerade im Gespräch mit einem anderen Kind ist. Und weil sich jedes Kind von ihr wahrgenommen fühlt, will es ihr auch zeigen und erzählen, was es gerade entdeckt hat. Soeben hatten die Kinder herausgefunden, dass nasse Pflanzenblätter auf der Haut und auf Glas, Stein oder Papier kleben und nicht herabfallen, solange sie nass sind. Das Wasser hat also klebende Eigenschaften.

Im Gespräch erinnern die Kinder sich, dass ihre Haare nach dem Duschen wie zusammengeklebt aussehen. „Man muss sie föhnen, damit sie auseinandergehen.“

Die Kinder kleben nun nasse Pflanzenblätter kunstvoll auf diverse Materialien und möchten ihre Kunstwerke der Erzieherin zeigen. Es entsteht allgemeine Aufgeregtheit, doch kein Kind drängelt sich vor, sondern wartet ab, bis die Erzieherin Zeit hat, um sein Exponat zu bestaunen.
Stellen Sie vor, ich bin in einer Kita in der Stadt Offenbach. In dieser Stadt hat jede Kita einen sehr hohen Anteil an Kindern, deren Muttersprache nicht Deutsch ist. In einigen Kitas sind es bis zu 96 Prozent. Ich arbeite gerade mit einer Gruppe zusammen, in der acht verschiedene Herkunftsländer vertreten sind. In der Art und Weise, wie diese Kinder einander zuhören, miteinander umgehen, fällt das jedoch nicht auf. Was auffällt, ist ein Kind, das an dem Tag zum ersten Mal die Kita besucht. Es ist gerade drei Jahre alt geworden. Da es kein Wort Deutsch verstehen kann, fängt es plötzlich an zu singen. Es singt so ungehemmt laut, dass alle anderen Kinder erst einmal verstummen müssen. Doch kein Kind herrscht es an oder findet sein Benehmen lächerlich. Ganz im Gegenteil. Einige Kinder versuchen nun, dem Kind mit Zeichensprache zu erklären, dass es mit seinem Gesang alle stört. Andere Kinder streicheln das Kind in der Hoffnung, es würde sich beruhigen. Dieses Ritual wiederholt sich zwei Mal, danach hat das Kind verstanden, was die anderen Kinder von ihm wollen, und gibt tatsächlich Ruhe. Es hat offensichtlich durch nicht-sprachliche Formen verstanden, wie es sich verhalten soll, und ist daher bereit, Selbstkontrolle zu entwickeln. Dieser aus meiner Sicht enorm bedeutende Prozess wird von der Erzieherin unterstützt. Das macht deutlich, mit welch ungeheuer schwierigen Phänomenen die Erzieherinnen kreativ umgehen müssen, um das Wohlbefinden der Kinder zu gewährleisten.

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