Salman Ansari Menschen · Natur · Leben · Literatur · Musik

21Nov/13Off

Vortrag „Vision Summit“ in Berlin, 2013.

„Kinder sind ja etwas anderes als Schüler. Wenn sie Kinder bleiben dürfen, dann wollen sie lernen“ (M. Wagenschein)

  • Die Kategorien „Kind als Forscher“ und „Laborexperiment“, geprägt von einigen Einrichtungen, entsprechen nicht den Denkmustern der Kinder. Sie sind irreführend. Der Entdeckergeist der Kinder geht nicht von einer Hypothese aus, die überprüft werden muss. Kinder entdecken ihre Welt ohne eine erkennbare Planung, Methode und Kontrolle. Gerade Planung, Methode, Technik und Kontrolle sind jedoch Kategorien, die einem forschenden Experiment von Erwachsenen inhärent sind. 
  • Wenn Kinder Geräte zur freien Verfügung gestellt bekommen, die sie soeben zur Durchführung eines Laborexperiments benutzt haben, dann setzen sie diese nicht mehr ein, um das Experiment zu wiederholen. Ganz im Gegenteil. Sie integrieren die Geräte spontan in Fantasiespiele. Pipette oder ein Reagenzglas erhalten dann andere Namen und Funktionen und werden entsprechend eingesetzt. Auch hierin erkennt man den Unterschied zwischen dem Bild eines Forschers, wie es in den Köpfen der Erwachsenen existiert und dem Verlangen  eines Kindes, sich die Welt nach seinem eigenen Maßstab anzueignen.
  • Jedes Geschehen, in das man sich selber nicht mit eigenen Ideen einbringen kann, verkümmert letztlich zu bloßem Aktionismus und hinterlässt kaum Spuren im Gehirn.
  • Lernen ist ein Vorgang der selbständigen Modifizierung von vorhandenen Konzepten durch neue Erfahrungen und nicht die Implementierung von irgendwelchen akademischen Kriterien.  Es ist müßig, Wissen nach seinem eigenen Denkschema in die Kinderköpfe hineinzupressen, weil die Passung noch nicht da ist. Lehrstrategien, die sich nicht den Denkmustern der Kinder anpassen, können keinen Zuwachs an Erfahrung und Wissen bewirken. Kreative Lernprozesse können nur durch ein Anknüpfen an das Vorwissen der Kinder stattfinden und wenn Kinder auf die Widersprüche ihres Weltverständnissen stoßen. Hierzu ein Beispiel:
  • Im Gelände einer Kita haben die Kinder Feuerkäfer und Marienkäfer entdeckt. Im Gespräch bemerke ich, dass ich wohl verstehen kann, weshalb der Feuerkäfer so heißt, weil er ja feurig rot aussieht, doch wieso heißt der andere Käfer Marienkäfer? Die Kinder meinen, wegen der Punkte auf seinem Rücken. Aber  der Feuerkäfer hat doch auch Punkte auf dem Rücken, sage ich, trotzdem heißt der Feuerkäfer  nicht Marienkäfer. Kinder finden meinen Einwand berechtigt und machen sich sofort daran, die beiden Käferarten in Hinblick auf die Unterschiede und Ähnlichkeiten genauer zu untersuchen. Hier findet also eine Modifizierung der Konzepte statt. Hier haben die Kinder die Möglichkeit, etwas zum Gegenstand ihres Denkens zu machen. Eine unabdingbare Voraussetzung, Zusammenhänge zu verstehen.
  • Der Dialog und damit die Sprache spielen eine herausragende Rolle beim Lernen. Denn  der Dialog ist ein Vorgang der personalen Begegnung. Im Dialog erfahren wir, was Kinder bereits wissen und wie sie über einen Sachverhalt denken.  Im Dialog erfahren die Kinder auch, welche Vorstellungen die anderen Kinder über ein und denselben Sachverhalt haben. Somit erlangen sie eine größere Bewusstheit ihrer Wirklichkeit und ihres Denkens.
  • Ein Wissen, das nicht in einen Dialog mit der Wirklichkeit eintreten kann, ist ein nutzloses Wissen, weil Kinder es nicht anwenden können, um sich selber und ihre Welt besser zu verstehen. Es beeinträchtigt nur ihre Sinneswahrnehmungen.
  • Der Antrieb zu lernen ist der Wunsch nach Selbständigkeit, damit wir uns in der Welt bewähren können. Es ist ein natürliches, existenzielles Bedürfnis. Wenn uns die Möglichkeiten, selbständig zu handeln, genommen werden, verlieren wir den Drang nach Autonomie. Die Phänomene der Natur bieten sich uns nicht mehr als Frage an, und wir hören auf, selber Fragen zu stellen. Stattdessen verlassen wir uns auf Antworten von anderen.
  • Neugier ist der Beginn einer Befragung, dann kommt das Staunen und dann das Fragen. Wir müssen versuchen, die Neugier der Kinder bis ins hohe Alter hinüber zu retten. Kinder geben diese wunderbare Eigenschaft viel zu früh auf.  
  • Die Neugier erstirbt, wenn Kinder eine Lernumgebung vorfinden, die arm an eigenständigen Erfahrungsmöglichkeiten ist und Kindern Konzepte aufbürdet,  die sie nicht selbständig, also vor dem Hintergrund ihres Vorwissens, erwerben können. Wenn sie Antworten auf Fragen bekommen, die sie gar nicht gestellt haben und ihnen Begriffe oder Zusammenhänge erklärt werden, die außerhalb ihrer Denkmöglichkeiten liegen, dann kann keine Neugier entstehen.
  • Es ist fast so, als müsste ich in einer Fremdsprache etwas sagen lernen, das ich noch gar nicht in meiner eigenen kann.
  • Das eigentliche Curriculum ist der Alltag der Kinder. Ein Beispiel dafür, wie sich ein Gespräch entwickeln kann. In einem  Vogelnest entdecken Kinder Haare. Wo hat der Vogel diese gefunden, fragen sie. Ein Kind meint, die Friseure würden manchmal die Ladentür offen stehen lassen. Die Vöglein könnten schnell hineinfliegen und  Haare klauen. Diese Hypothese wird jedoch von anderen Kindern verworfen. Einige Kinder meinen nun, dass es in der freien Natur auch Tiere gebe, die Haare verlören,  so wie Hunde und Katzen. Einige Kinder meinen auch, dass Tiere im Winter ein dickeres Fell haben als im Sommer.  
  • Wir Erwachsenen müssen umdenken,  Einfachheit anstreben, lernen mit Kindern zu spielen und das Selbstverständliche, das Alltägliche mit Neugier zu begegnen.
  • Die Frühforderungsprogramme verschiedener Einrichtungen und die Bildungspläne der Länder haben inzwischen eine Zweiteilung zwischen Lernen und Spielen im Bewusstsein des Lehrpersonals und der Elternschaft zu Tage gefördert. Das freie Spiel wurde zugunsten von kognitiven Lernprogrammen gemindert. Freies Spiel und Lernen bilden jedoch eine Einheit. Im Spiel lernen Kinder, Emotionen zu kontrollieren, geduldig Fehlschläge und Frustrationen hinzunehmen. Sie lernen sozial und gerecht miteinander umzugehen, gemeinschaftlich Konflikte zu lösen, sich  in unerwarteten Situationen zu bewähren. Das freie Spiel trägt zum Erwerb von intellektuellen Strategien bei, die Kindern dabei helfen, kognitive Herausforderungen zu bewältigen. Im Spiel lernen Kinder alle Instrumentarien zum erfolgreichen Lernen. Zum Beispiel Ideenreichtum, Selbständigkeit, soziale Kompetenzen im Umgang mit anderen, Gerechtigkeit und Anteilnahme. Spielen ist der Wunsch nach neuen Erfahrungen. Gerade weil das Spielen nicht auf ein vorbestimmtes Ziel ausgerichtet ist, können Kinder spontane Ideen bzw. Entscheidungskompetenzen entwickeln und Kreativität entfalten.  
  • Die fälschliche Annahme, nur in den ersten Lebensjahren seien im Gehirn Fenster zur Aufnahme von bestimmten Wissensinhalten offen, hat zu  einer Frühförderungshysterie geführt. Auch Begriffe wie „hirngerechtes Lernen“ oder „Neurodidaktik“ sind aus meiner Sicht leere Hülsen. Die Neurowissenschaften haben bisher nur das bestätigt, was gute Pädagogen seit über hundert Jahren wissen.
  • Jedes Kind kann lernen. Das ist wahr. Aber nicht jedes Kind ist hochbegabt, was immer man darunter auch verstehen mag. Solche Aussprüche erwecken uneinlösbare Erwartungen. Jedes dritte Elternpaar meint ohnehin, sein Kind sei hochbegabt: Eine Katastrophe für die Kinder.
  • Die Zukunft der Kinder können wir nicht vertagen und auf bessere Zeiten oder Bildungsrevolutionen warten. Statt Aktionismus brauchen wir Konzepte des Lehrens und Lernens, die man heute und jetzt realisieren kann. Vorbilder gibt es ja bereits.
  • Kinder sind heute vielfach unendlichen Reizen und virtuellen Welten ausgesetzt. Sie sehen die alltäglichen Bilder des Grauens und Schreckens. Sie nehmen teil an Geschehnissen der Welt, die sie nicht verarbeiten können. als  Schonraum ist nicht selbstverständlich. Daher haben  Kinder Anspruch auf Gegenwelten, in denen sie die Schönheit der Sprache, der Musik, der Kunst erfahren können. Kinder brauchen Orte, wo sie in den unendlichen Räumen ihrer Vorstellungskraft Wirklichkeiten entstehen lassen können, die ihnen das Gefühl von Selbstvertrauen, Geborgenheit und Freiheit vermitteln. Kinder brauchen Naturerfahrung. Kinder brauchen Begegnungen mit Jim Knopf, Michel von Lönneberga, Madita und Pu dem Bären. Kinder brauchen Ferien auf Bullerbü und  Reisen zu den Inseln, wo die wilden Kerle wohnen.
  • Kinder brauchen Ermutigung, die Welt zu interpretieren. Interpretation ist stets auch Analyse, also das Bemühen die Welt zu verstehen. Literatur, Kunst, Geisteswissenschaften, Geschichte,   interpretieren die Welt und erklären sie nicht. Daher können unterschiedliche Interpretationen Nebeneinader bestehen und unsere Wahrnehmungsmöglichkeiten bereichern.
  • Kinder stehen nicht zur Verfügung, wenn man ihre Zukunft als Ingenieur oder Forscher schon in ihren ersten Lebensjahren antizipiert. Unsere Welt ist undurchschaubar und unplanbar geworden wie nie zuvor. Wir wissen nicht, wie sie in zwanzig, dreißig Jahren aussehen wird. Wir wissen auch nicht, ob die Techniken, die wir heute als Vehikel des Fortschrittes deklarieren, in zwanzig Jahren werden adäquat sein können, um die Werte der Humanität zu verwirklichen. Was wir aber tun können, was wir uns zur Aufgabe machen sollten, ist, die angelegten Fähigkeiten der Kinder - und zwar jenseits aller Ideologien - kontinuierlich weiter zu entwickeln: Die Fähigkeit, eigenständig zu denken. Die Fähigkeit zu einem erfüllten sozialen Miteinander, nicht nur im Berufs- sondern auch im Privatleben, die Fähigkeit, die Gestaltungsmöglichkeiten unserer Gesellschaft kreativ zu nutzen und sinnvoll weiter zu entwickeln. So wird auch die ursprüngliche Neugier, die Fähigkeit, sich zu öffnen und seinen Horizont beständig zu erweitern und daraus Kraft und Sinn zu schöpfen, nicht verkümmern.

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